EXPERTISE - BEHANDLUNGSSCHWERPUNKT
ISG-Syndrom, ISG-Blockade, ISG-Dysfunktion, ISG-Funktionsstörung, SIJ-syndrome
Kreuzschmerzen, Hexenschuss
Das Kreuzdarmbeingelenk (Iliosakralgelenk = ISG) wird von Kreuzbein und Darmbein gebildet. Es ist paarig angelegt, das heißt es existiert ein linkes ISG und eines auf der rechten Seite. Die beiden Gelenkpartner sind über breite Gelenkflächen, die mit Knorpel überzogen sind, miteinander verbunden. Umgeben wird das ISG von einem straffen Bandapparat, der in der Regel nur eine sehr geringe Beweglichkeit zulässt. Diese so genannte Nutationsbewegung beträgt etwa 1,5°. Eine wahrnehmbare, aktive Bewegung, wie etwa im Hüft- oder Kniegelenk ist im ISG nicht möglich.
Das ISG ist die einzige knöcherne Verbindung der Wirbelsäule zum Becken und damit auch vom Rumpf zu den unteren Extremitäten. Es stellt damit eine Schlüsselstelle im gesamten Bewegungssystem dar. Im ISG herrschen enorme Kräfte: minimalste Funktionsstörungen können Auswirkungen auf die gesamte Biomechanik des Bewegungsapparates haben. (1)
ANATOMIE
Kreuzdarmbeingelenk
In der Literatur ist beschrieben, dass 15–30 % der tiefsitzenden Rückenschmerzen auf eine ISG-Fehlfunktion zurückzuführen sind. Besonders bei jungen und sportlichen Menschen mit tiefsitzenden Rückenschmerzen ist von erheblich größeren Zahlen auszugehen.
Muskeldysbalancen und Beinlängendifferenzen sorgen für eine ungleiche Verteilung der Last und führen zur Überlastung, häufig eines der Kreudarmbeingelenke. Auch Voroperationen im Bereich der Wirbelsäule, etwa Versteifungen einzelner Lendenwirbelsäulensegmente führen durch die im Anschluss fehlende Beweglichkeit der operierten Segmente zu einer Mehrbelastung der nach unten folgenden Glieder in der Bewegungskette. Laut Literatur haben 32–61 % der Patienten nach einer solchen Operation Schmerzen im ISG. (2) Das ISG kann in solchen Fällen besonders belastet sein und eine Funktionsstörung entwickeln. Im weiteren Verlauf können die Kreuzdarmbeingelenke dadurch sogar früher degenerieren. (3)
Eine Sonderstellung hat sicherlich die Schwangerschaft. ISG-Syndrome sind hier besonders häufig. Aber wie kommt das? Durch die zunehmende Veränderung der Platzverhältnisse im Becken während der Schwangerschaft, lockert sich der straffe Bandapparat, der das ISG umgibt. Dies ist sinnvoll und notwendig, um für die Geburt so viel Platz, wie möglich zu schaffen. Schmerzhaft ist es aber häufig leider auch, denn dadurch geht ein Teil der ursprünglichen Stabilität verloren und es bietet sich mehr Spielraum für ein Verkanten der Gelenkflächen (Blockaden). (2)
Zuletzt sei eine wichtige Differentialdiagnose erwähnt, die der Arzt im Hinterkopf haben sollte. Der sogenannte Morbus Bechterew gehört zum Formenkreis der rheumatischen Erkrankungen und zeigt häufig als Erstsymptom eine ISG-Entzündung (Sakroileitis), die ebenfalls mit tiefsitzenden Kreuzschmerzen einhergeht.
Sollte der Arzt den Verdacht äußern, so werden in der Regel Blutuntersuchungen und eine MRT des Beckens durchgeführt.
Die Symptome eines ISG-Syndroms sind vor allem vom Ausprägungsgrad der Funktionsstörung abhängig. Sie reichen von dauerhaften, dumpfen, einseitigen und tiefsitzenden Rückenschmerzen (chronisches ISG-Syndrom) bis hin zu plötzlich auftretenden unerträglichen und vollständig immobilisierenden Schmerzen (akutes ISG-Syndrom). Dies wird häufig umgangssprachlich als Hexenschuss bezeichnet.
Hierbei sollten Sie auch an ein ISG-Syndrom denken:
Die Beschwerden können häufig ins Gesäß und ins Bein ausstrahlen. Hier sollte durch den Arzt eine sorgfältige Untersuchung, um mögliche schwerwiegende Ursachen ausschließen zu können (Banscheibenvorfall, entzündliche Erkrankungen). Manifeste Taubheitsgefühle und Lähmungen von Muskulatur entstehen durch ein ISG-Syndrom in der Regel nicht. Das gemeinsame Auftreten mit dem sogenannten Piriformis-Syndrom und der Verhärtung der umgebenden Glutealmuskulatur ist allerdings häufig. Man sollte daher auf Mischbilder achten.
Von klinischer Bedeutung ist es, akute Verläufe von chronischen Beschwerden zu unterscheiden. Ein akutes ISG-Syndrom kann, wie schon beschrieben zur vollständigen Bewegungsunfähigkeit des Patienten oder der Patientin führen. Es besteht in der Regel ein enormer Leidensdruck sowie ein ausgeprägter Wunsch nach sofortiger Behandlung.
Bei chronischer Beschwerdeproblematik gilt es, ein langfristiges Therapiekonzept mit einem hohen Anteil aktivierender Strategien zu entwickeln.
Auch das ISG-Syndrom ist eine sogenannte Funktionsstörung, die bei ausreichender Erfahrung direkt durch die Anamnese und klinische Untersuchung diagnostiziert werden kann. Weitere diagnostische Mittel (Röntgen oder MRT) sind im Normalfall nicht nötig und sollten nur in unklaren Fällen oder bei langfristigem Ausbleiben des Therapieerfolges durchgeführt werden.
Unterstützend kann zur Diagnosesicherung auch eine Injektion mit Lokalanästhetika und Cortison in das betroffene Gelenk vorgenommen werden. Bei Besserung oder Verschwinden der Beschwerden ist die Diagnose gesichert und es wurde zugleich ein Baustein der Therapie angewandt. (2)
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Die Therapie des ISG-Syndroms setzt sich aus folgenden Bausteinen zusammen:
In der Akutphase der Erkrankung stehen zunächst passive Maßnahmen im Vordergrund der Behandlung. Passiv beschreibt den Zustand des Patienten, der in diesem Fall nicht aktiv wird. Bei einer frisch aufgetretenen Symptomatik, die maximal wenige Stunden alt ist, können sogenannte Manipulationstechniken angewandt werden. Im Volksmund spricht man vom „Einrenken“. Ist die Symptomatik schon länger vorhanden, sollten eher schonendere Mobilisationstechniken zum Einsatz kommen. Das Manipulieren (Einrenken) ist dann in der Regel nicht mehr erfolgsversprechend, weil der straffe Bandapparat und die umgebende Muskulatur reflektorisch verspannt und eine „schnelle Korrektur“ verhindert.
Unterstützend werden in der Regel nicht-kortisonhaltige-Anti-Rheumamittel (Nicht Steroidale Antirheumatika, NSAR) wie Ibuprofen verschrieben. Diese bekämpfen die Schmerzen und können durch die antientzündliche Wirkung das Ausbilden eines Ödems der Gelenkflächen und damit die Zunahme der Beschwerden vermindern. Außerdem kommen Muskelrelaxantien wie etwa Methocarbamol (Ortoton) zum Einsatz, welche der übermäßigen Verspannung der umgebenden Muskulatur entgegenwirken.
Begleitend zu physiotherapeutischen Maßnahmen ist der Einsatz der physikalischen Therapie sinnvoll. Der gezielte Einsatz von Wärmetherapie (Fangopackungen, etc.) vor Mobilisationstechniken oder anderen manuellen Behandlungen fördert die Durchblutung und kann den Behandlungseffekt deutlich verbessern.
In der Akutphase kann eine frühzeitige Injektionstherapie sinnvoll sein, um die Schmerzspirale zu unterbrechen und somit einer Chronifizierung vorzubeugen und eine weitere reflektorische Verspannung und Schonhaltung zu verhindern. Wie bereits beschrieben, kann hierdurch die Verdachtsdiagnose bestätigt werden.
Ist die Akutphase abgeklungen, gilt es, ein langfristiges Therapiekonzept zu entwickeln, um eventuell vorhandene Restbeschwerden zu verbessern und erneuten Akutphasen vorzubeugen. In dieser Krankheitsphase stehen aktive und aktivierende Maßnahmen im Vordergrund der Therapie:
Wie bereits beschrieben, spielt der sogenannte M. iliopsoas häufig eine wesentliche Rolle in der Entstehung des ISG-Syndroms. Verkürzungen sollten durch tägliche und gezielte Dehnübungen behoben werden. Bestehende Seitendifferenzen sollten dadurch ebenfalls angeglichen werden. Gezielte Dehnung sollte zusätzlich im Bereich der Gluteal- und Piriformismuskulatur erfolgen. Das ISG-Syndrom und das sogenannte Piriformis-Syndrom treten häufig gemeinsam auf und sollten daher als Funktionseinheit betrachtet werden. (siehe auch Piriformis-Syndrom).
Es sollte außerdem eine gezielte Kräftigung der tiefen (autochthonen) Rückenmuskulatur erfolgen. Dies sind die tiefliegenden Muskeln, die die Wirbelsäule direkt umgeben. Sie sind nicht bewusst ansteuerbar und werden reflektorisch trainiert (Propriozeptionstraining, Flexibar-Training). Außerdem sollten Seitendifferenzen, die etwa bei einer Bewegungsanalyse entdeckt worden sind, so gut wie möglich ausgeglichen werden. Dies sollte mittels individuellen Trainingsplanes im Rahmen einer gezielten Medizinischen Trainingstherapie (MTT) erfolgen. Hier sollte auch zur Eigenübung angeleitet werden, damit Training und Dehnung täglich durchgeführt werden können. Übrigens: Häufig wird als erste Maßnahme Funktionstraining verschrieben. Dieses ist meist wenig individuell und sollte daher nicht erste oder einzige Maßnahme sein. Sinnvoll kann Funktionstraining in der langfristigen Therapie dennoch sein: Und zwar, wenn die Patienten ihr Problem und ihre individuellen Übungen bereits kennen und selbstständig in das Funktionstraining integrieren können.
Besonders bei überwiegend sitzenden Tätigkeiten sollten regelmäßig Positionswechsel ermöglicht werden, um weiteren Akutphasen vorzubeugen.
Die interventionelle/operative Therapie ist absolut therapieresistenten Fällen vorbehalten. Es stehen 2 Verfahren zur Auswahl:
Die Prognose des ISG-Syndroms ist bei angemessener und konsequenter Therapie gut. Selbstverständlich kommt es immer darauf an, über welche Resourcen der Patient verfügt. Ein 28-jähriger Sportler ohne Vorerkrankungen hat vermutlich größere Chancen, die Beschwerden vollständig zu eliminieren, als ein 80-jähriger Patient mit chronischen Rückenschmerzen seit 10 Jahren. Trotzdem sollte die Therapie konsequent bei jedem Patienten durchgeführt werden.
Patienten mit einem sogenannten chronischen Schmerzsyndrom ist häufig mit eben beschriebenen Therapiekonzepten alleine nicht ausreichend geholfen. Sie sollten durch ein Schmerzzentrum betreut werden und multimodale Therapiekonzepte zur Schmerzbewältigung erfahren.
Die chirurgische Therapie des ISG-Syndroms ist erst zu erwägen, wenn konservative Therapiekonzepte vollends ausgeschöpft sind. Sie sind nicht sehr erfolgsversprechend, weswegen ihre Bedeutung bei diesem Krankheitsbild nachrangig ist.
Sitzende Tätigkeiten und ein inaktiver Lebensstil prädisponieren für ISG-Probleme. Das lange Sitzen kann zu erheblichen Verkürzungen der Hüftbeuge-Muskulatur führen. Diese „ziehen das Becken nach vorne“ und begünstigen eine Hyperlordose im Lendenbereich, auch Hohlkreuz genannt. Die Iliosakralgelenke übernehmen eine Schlüsselrolle in der Kraftübertragung vom Rumpf auf unsere Beine. Daher sind sie anfällig für Überlastungserscheinungen und Blockaden. Kommt die Wirbelsäule aus dem Lot, steigt die punktuelle Belastung auch im Bereich des Kreuzdarmbeingelenkes.
ÜBUNG 1
Legen Sie sich auf den Bauch. Die Arme werden auf Schulterhöhe seitlich ausgestreckt aufgelegt. Heben Sie ein Bein und versuchen mit den Zehenspitzen durch eine Bewegung nach hinten oben die
gegenüberliegende Hand zu erreichen. Kehren Sie in die Ausgangsposition zurück und führen die Bewegung mit dem anderen Bein durch.
Wiederholungsanzahl:
3 x 10–12
ÜBUNG 2
Legen Sie sich auf den Rücken und platzieren unter Ihrem Rücken im Bereich des Übergangs von Becken und Wirbelsäule einen halb gefüllten Redondoball. Nehmen Sie die Arme seitlich neben den Körper und heben Kopf und Schultern leicht an. Die Beine werden sowohl in Hüft- als auch Kniegelenken 90° gebeugt. Halten Sie das Becken auf dem Redondo im Gleichgewicht. Versuchen Sie abwechselnd die Beine zu strecken.
Wiederholungsanzahl:
3 x 1–3 Min.
ÜBUNG 3
Heuschrecke
Legen Sie sich in Bauchlage. Heben Sie die Beine gestreckt nach oben, sodass von den Beinen nur noch die Oberschenkel aufliegen. Halten Sie die Position für 5 Sek.. Um den Anspruch zu vergrößern,
können Sie die Arme zusätzlich nach vorne strecken. Kehren Sie nach der Haltezeit in die Ausgangsposition zurück.
Wiederholungsanzahl:
3 x 12–15 Wdh. mit 5 Sek. Haltezeit
Kobra
Bleiben Sie in Bauchlage. Nehmen Sie die Hände auf Höhe der Schultern und drücken sich nach oben. Achten Sie darauf, dass die Hüfte so weit wie möglich aufliegt. Halten Sie die Position für 5 Sek. und kehren in die Ausgangsstellung zurück.
Wiederholungsanzahl:
3 x 12–15 Wdh. mit 5 Sek. Haltezeit
ÜBUNG 4
Drehdehnlage – aus Seitlage
Legen Sie sich in die stabile Seitenlage. Das untere Bein ist gestreckt. Das obere Bein liegt in 90° Hüft- und 90° Kniebeugung vor dem Körper. Der Kopf kann locker abgelegt werden. Die Arme
zeigen vom Körper weg nach vorne. Öffnen Sie nun die Arme und drehen sich mit dem Oberkörper nach hinten. Der obere Arm bleibt dabei gestreckt. Der Blick folgt dem oberen Arm nach hinten. Gehen
Sie in eine Dehnung. Dabei soll das obere Knie ständig den Kontakt zum Boden behalten. Halten Sie die Dehnung.
Wiederholungsanzahl:
3 x 30–60 Sek./Seite halten
ÜBUNG 5
Dehnung M. iliopsoas
Machen Sie einen langen Ausfallschritt. Der Unterschenkel des hinteren Beins wird mit dem Knie auf dem Boden abgelegt. Der Fußrücken liegt auf dem Boden auf. (ggf.weiches Polster unter das Knie legen). Das vordere Bein bleibt aufgestellt und der Unterschenkel wird so weit vorgestellt, dass der Kniewinkel 90 Grad beträgt. Der Oberkörper wird aufgerichtet und die Hüfte des hinteren Beines wird nach vorn-unten gedrückt bzw. das aufgestellte Bein schiebt nach vorne. Hierdurch spüren Sie die Spannung in der Leiste.
Dehnung Piriformis („Taube”)
Machen Sie einen Ausfallschritt. Der Unterschenkel des hinteren Beins wird mit dem Knie auf dem Boden abgelegt. Der Fußrücken liegt auf dem Boden auf. (ggf.weiches Polster unter das Knie legen).
Der Unterschenkel des vorderen Beines wird nun nach innen abgelegt, sodass Knöchel und Knie eine Linie bilden. Um die Dehnung in der Gesäßhälfte noch zu verstärken, neigen Sie den Oberkörper nach
vorne unten. Achten Sie darauf, dass der Unterschenkel nicht „nach innen unten” wandert.
Wiederholungsanzahl:
3 x 30–60 Sek. halten/Seite und Übung
Der „faltbare” Übungsball dient Kräftigungs-, Mobilisations- und Entspannungsübungen.
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Gute Besserung.
QUELLEN
(1) Schünke M, Schulte E, Schumacher U, Voll M, Wesker K. Prometheus allgemeine anatomie und bewegungssystem, 2. überarbeitete und erweiterte auflage. . 2014.
(2) Yoshihara H. Sacroiliac joint pain after lumbar/lumbosacral fusion: Current knowledge. European Spine Journal. 2012;21(9):1788. https://www-1ncbi-1nlm-1nih-1gov-1mf9loare0041.han.mh-hannover.de/pmc/articles/PMC3459112/. Accessed Feb 7, 2019. doi: 10.1007/s00586-012-2350-8.
(3) Cohen SP, Chen Y, Neufeld NJ. Sacroiliac joint pain: A comprehensive review of epidemiology, diagnosis and treatment. Expert Review of Neurotherapeutics. 2013;13(1):99-116. https://doi.org/10.1586/ern.12.148. Accessed Feb 2, 2019. doi: 10.1586/ern.12.148.
(4) Nationale VersorgungsLeitlinie nicht-spezifischer kreuzschmerz. Journal Club AINS. 2017;6(2):68. doi: 10.1055/s-0043-111024.